28

 

Reichen saß neben Tegan auf dem Rücksitz eines schwarzen Range Rover. Die Fahrt in die Nordwestecke von Connecticut kam ihm endlos vor.

Rio saß am Steuer, und Nikolai auf dem Beifahrersitz hielt ununterbrochen Handykontakt mit Renata, seit die Krieger Boston vor rund drei Stunden verlassen hatten. Hinter ihnen fuhr ein weiterer Geländewagen mit dem restlichen Team, das sie auf der Mission begleitete: Kade, Brock und Hunter.

Vor etwa einer Dreiviertelstunde waren sie von der Interstate abgefahren und hatten sich im Zickzackkurs über holprige Landstraßen bewegt.

Dabei richteten sie sich sowohl nach den Koordinaten, die die Frauen ihnen durchgegeben hatten, als auch nach den Signalen der Blutsverbindungen, die Niko und Rio auch ohne Straßenkarten oder GPS zu ihren Gefährtinnen führten. Auch Reichens sensorischer Zugriff auf Claire intensivierte sich, je weiter sie über die mondhelle, gewundene zweispurige Asphaltpiste fuhren.

„Wir sind gerade an dieser kleinen Tankstelle vorbeigekommen, die du erwähnt hast“, sagte Niko in sein Handy, als diese, inzwischen geschlossen, wieder hinter ihnen in der Dunkelheit verschwand.

„Jetzt biegen wir um die Kurve. Ihr müsstet die Scheinwerfer des Rover jeden Moment sehen. Wir blenden auf, damit ihr wisst, dass wir es sind.“

Rio betätigte ein paarmal das Fernlicht, und die Straße vor dem Fahrzeug erstrahlte hell.

„Okay, wir sehen euch“, sagte Niko, als in einigen hundert Metern Entfernung eine dunkel gekleidete Gestalt aus dem Wald trat und winkend auf sich aufmerksam machte.

Reichen sah sie von seinem Platz hinter Niko aus und wagte kaum zu atmen, bis Rio den Rover von der Straße in den Waldweg gesteuert hatte, wo die drei Stammesgefährtinnen warteten. Suchend blickte er sich um, und sein Blick blieb auf ihr ruhen. Sie wirkte so verletzlich und deplatziert in dieser nächtlichen Umgebung mitten im Wald, ganz davon abgesehen, dass sich Wilhelm Roth nicht weit von der Stelle befinden musste, an der sie gerade stand.

Doch Reichen spürte nur eine winzige Spur von Furcht in ihr. Claires Puls schlug gleichmäßig und kräftig in seinem Herzen, und ihr Gang war sicher, als sie zusammen mit ihren Begleiterinnen auf das Fahrzeug zukam.

Kaum hatte Rio den Geländewagen angehalten, sprangen er und Niko heraus, um ihre Gefährtinnen erleichtert und ausgiebig zu umarmen. Reichen und Tegan stiegen ebenfalls aus. Tegan ging ein Stück zurück, um das zweite Fahrzeug zu begrüßen, das auf dem staubigen Waldweg hinter ihnen hielt. Leise Unterhaltungen schwirrten durch die Luft. Taktiken und Strategien wurden besprochen und noch einmal rasch die Pläne rekapituliert, das Gebiet zu durchkämmen, wo Dylan die Geister der Stammesgefährtinnen gesehen hatte. Dort, so hofften sie, konnten sie einen Offensivschlag gegen ein etwaiges Versteck von Dragos starten.

Derweil konnte Reichen den Blick nicht von Claire wenden. Er schlenderte zu ihr hin und verschränkte die Arme, als sein Bedürfnis, sie um sie zu schlingen, zu stark wurde. So, wie sich die Dinge im Hauptquartier zwischen ihnen entwickelt hatten, wusste er nicht, ob sie seine Besorgnis überhaupt wollte.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er und merkte, dass sie ihre Arme ebenfalls eng bei sich behielt, als er näher kam. „Mein Gott, Claire, ich habe gehört, was heute passiert ist. Du hast keine Ahnung, welche Sorgen ich mir gemacht habe...“

Sie warf ihm einen unergründlichen Blick zu und registrierte seine schwarze Kampfmontur und die zahlreichen Waffen, mit denen der Orden ihn ausgerüstet hatte und die ihm nun in Gürtelholstern um die Hüften hingen. Dann sah sie ihm wieder in die Augen und nickte. „Mir geht es gut“, sagte sie tonlos. „Danke für deine Anteilnahme.“

Gott, wie er diese gezwungene Höflichkeit hasste.

Und die knappe Armlänge, die sie gerade trennte, konnte genauso gut auch eine Meile sein. Claire zeigte ihm diesen Ausdruck vollendeter Gelassenheit, der einst Wilhelm Roth vorbehalten war - dieselbe verschlossene, freundliche Maske wie auf den Fotos, die Reichen von ihr gesehen hatte. Und jetzt sah sie ihn so an. Schloss ihn mit der gleichen Art freundlicher Distanz aus, die sie einst für Fremde und Leute reserviert hatte, denen sie nicht recht traute.

Das traf ihn tief, auch wenn er es verdient hatte, dass sie ihm die kalte Schulter zeigte. Verdammt, was Claire anging, hatte er noch viel mehr als das verdient. Er hatte ihr gesamtes Leben auf den Kopf gestellt und sie in einen tödlichen persönlichen Krieg verstrickt. Am allerschlimmsten war, dass er in ihr Leben zurückgekehrt war, nur um sie mitten in seinen Konflikt mit Roth hineinzuziehen.

„Claire“, sagte er leise. Diese Worte waren nur für ihre Ohren bestimmt. „Es gibt so viel, wofür ich mich bei dir entschuldigen möchte...“

„Bitte nicht.“ Sie blickte in der Dunkelheit zu ihm auf und schüttelte leicht den Kopf. In ihrer Stimme lagen weder Verdammung noch wilder Schmerz. Nur stille Resignation. „Glaubst du wirklich, ich erwarte, dass du dich bei mir entschuldigst? Nein, Andreas, nicht mehr. Vor allem nicht jetzt. Wenn das alles heute Nacht vorbei ist, kannst du sagen, was immer du mir sagen musst.“

Sie hatte Angst, dass er in den Tod ging. Und vielleicht würde er das auch. Langsam stieß er den Atem aus, wie immer verblüfft über ihre innere Stärke. Er streichelte sie, ganz kurz nur, und prägte sich das samtige Gefühl ihrer warmen, honigsüßen Haut ein. „Ich habe dich immer geliebt, Claire. Das weißt du doch, oder?“

Zärtlich presste sie ihre Finger an seine Lippen. „Tu bloß nicht so, als wäre das ein Abschied“, flüsterte sie heftig. „Verdammt noch mal, Andre, untersteh dich!“

Reichen küsste ihre weichen Fingerkuppen, dann schlang er den Arm um ihre Taille und zog sie zu sich hoch. Hunger und Verlangen loderten in ihm auf, zwei Bedürfnisse, die sich auf die Frau konzentrierten, die sich so gut in seiner Umarmung anfühlte. „Du gehörst zu mir, Claire“, brummte er in ihren Mund, als er sie lange und leidenschaftlich küsste.

Um sie herum bereiteten sich die Krieger darauf vor, auszuschwärmen und mit ihrer Durchsuchung des abgelegenen Waldstücks zu beginnen. Reichen trat einen Schritt von Claire zurück, die Kluft, die sich zwischen ihnen auftat, fühlte sich an wie ein plötzlicher kalter Windstoß. „Ich muss jetzt los.“

„Ich weiß“, sagte sie leise. „Aber du kommst zu mir zurück, ja? Dieses Mal versprich es mir, Andre... dass du zu mir zurückkommst.“

Er warf einen schnellen Blick in den dunklen Wald, seine Sinne prickelten von der Gewissheit, dass schon bald eine schwere Schlacht bevorstand. Er sah Claire wieder an und saugte ihr Bild in sich auf. Seine schöne, außergewöhnliche Claire. Nach heute Nacht würde sie endgültig frei von Roth sein. Dafür würde Reichen sorgen. Nach heute Nacht würde sie in Sicherheit sein, ganz gleich, was er dafür tun musste. „Ich muss los“, sagte er erneut.

Beschwörend sah sie zu ihm auf. „Andre... versprichst du es?“

„Pass auf dich auf, Claire. Ich liebe dich.“

Er schloss sich Tegan und den anderen Kriegern an und schaute nicht zurück.

Claire blieb eine ganze Weile stehen und sah erstarrt zu, wie der Wald Andreas und die anderen Krieger verschluckte. Sie hatte ihre tapfere Fassade länger aufrechterhalten, als sie erwartet hatte. Aber jetzt, wo er fort war, fühlte sie sich schwach und etwas wacklig auf den Beinen. Sie zuckte zusammen, als ihr eine Hand auf die Schulter tippte.

„Hey.“ Es war Dylan, ihr Blick war sanft und mitfühlend. „Komm zum Rover. Da drin ist es wärmer.

Rio und ich leisten dir Gesellschaft, bis das hier vorbei ist.“

Sie ließ sich zu dem wartenden Fahrzeug zurückführen, wo sie feststellte, dass auch Renata sich den Kriegern angeschlossen hatte. Im Wageninneren stand Rio in Funkkontakt mit sämtlichen Teilnehmern des Einsatzes, auch mit Andreas. Diese Verbindung zu ihm, wenn auch nur elektronisch, tröstete sie ein wenig. So konnte sie zumindest hin und wieder seine Stimme hören und wusste, dass er noch bei ihr war. Noch am Leben.

Sie weigerte sich, über die vielen furchtbaren Möglichkeiten nachzudenken, wie diese Nacht ausgehen konnte. Stattdessen klammerte sie sich an die Wärme von Andreas' Umarmung, seinen leidenschaftlichen Kuss und seine liebevollen Worte.

Er musste zu ihr zurückkommen.

Er musste überleben.

Während sie diese Gedanken an sich presste wie einen Schild, ertönte aus dem Empfänger über dem Armaturenbrett des Rover Tegans Stimme.

„Scheiße, ich glaube, wir haben was hier draußen.“

Im Hintergrund war das Geräusch von Stiefeln zu hören, die vorsichtig durchs Laub raschelten. „Oh, verflucht, ja... wir haben allerdings was. Verfallene Scheune, etwa vier- oder fünfhundert Meter nordöstlich vom Rover.“

„Verstanden“, kam Brocks knurrender Bass. „Wir kommen.“

Claire wechselte einen ängstlichen Blick mit Dylan, als weitere Krieger meldeten, dass sie sich sternförmig der Stelle näherten, die Tegan durchgegeben hatte.

„Ein paar Lakaien sind davor postiert, bewaffnet mit halb automatischen Gewehren“, ergänzte Tegan.

„Reichen und ich kümmern uns um sie. Alle anderen bilden die Nachhut.“

Einige Sekunden später dröhnten Schüsse aus dem Wald.

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